Imprä­gnierprodukte auf Fluorcarbonbasis Fluorcarbone und Schutztextilien: Das Eigentor steht bevor

Das Thema Fluorcarbonausrüstungen ist in der Textilbranche ein Dauerbrennerthema. Perfluoroctansäure (PFOA) bzw. dessen Vorläuferverbindungen sind problematische Stoffe, die in geringen Spuren in Imprä­gnierprodukten auf Fluorcarbonbasis enthalten sind. Sie werden in einem schon fast zwei Jahre andauernden Prozess bei der European Chemical Agency (ECHA) einer weitgehenden Regulierung unterzogen.

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    Stefan Thumm
    © Verband der Bayerischen Textil- und Bekleidungsindustrie
    Stefan Thumm vom Verband der Bayerischen Textil- und Bekleidungsindustrie sieht enorm viel Forschungsbedarf bei fluorcarbonfreier Chemie.
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    Fluorcarbonausrüstungen verleihen schusssicheren Westen die notwen­dige Wasserabweisung, um bei Nassbeschuss zu bestehen.
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    Fluorcarbonausrüstungen verleihen schusssicheren Westen die notwen­dige Wasserabweisung, um bei Nassbeschuss zu bestehen.
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    per- und polyflourierte Stoffe
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    Die Verwendung von per- und polyflourierte Stoffen soll beschränkt werden. Die Chemikalien finden sich oft in Arbeitsbekleidung.

"Fluorcarbone" bieten ein unschlagbar hohes Schutzniveau gegenüber Öl, Wasser und Chemikalien. Dieses wurde von zahlreichen Normen für Schutztextilien übernommen und zur Vorschrift gemacht. Als Grundlage für die festgeschriebenen hohen Schutzwerte dienten fluorierte Polymere auf C8-Telomerbasis. Sie waren lange Zeit das Maß aller Dinge und sind auch in der Wäschereibranche als Ausrüstungssubstanzen bekannt: Sie geben einer Chemikalienschutzbekleidung ihre Abweisung gegenüber Säuren, Alkalien und Lösungsmitteln zurück.

Diesen Effekt haben Fluorcarbone bei Textilien

Sie verleihen schusssicheren Westen die notwendige Wasserabweisung, die das Bestehen des so genannten Nassbeschusses überhaupt möglich macht. Sie halten Feuerwehruniformen trocken und schützen sie gegen das Eindringen von Chemikalien und Ölen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Anwendungen, bei denen Fluorcarbonimprägnierungen für Schutz im Umgang mit flüssigen Gefahrstoffen wie etwa Pestiziden, Treibstoff, Infektionserreger enthaltenden Sekreten oder ABC-Kampfstoffen sorgen. Kurzum: Bei der Wiederaufbereitung von Schutzbekleidung und OP-Textilien bringen Nachhydrophobierungsprodukte auf Fluorcarbonbasis die geforderte Chemikalien- bzw. Infektionsschutzbarriere wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück.

Unter Druck der Europäischen Chemikalienverordnung REACH

Polymere auf C8-Telomerbasis enthalten allerdings Spuren von PFOA, weshalb sie in der jüngeren Vergangenheit durch so genannten C6-Produkte ersetzt wurden. Diese geraten nun aber auch unter Druck der Europäischen Chemikalienverordnung REACH. So hat das Deutsche Umweltbundesamt (UBA) im Mai 2016 neue Restriktionsabsichten angekündigt.

Außerdem sind PFOA-Alternativstoffe unter Beobachtung. Mit den beabsichtigten erweiterten Restriktionen in der Fluorchemie gerät eine ganze Imprägniermittelgeneration ins Wanken. Stefan Thumm, Koordinator für Technik, Umwelt und Innovation beim Verband der Bayerischen Textil- und Bekleidungsindustrie (VTB) in Hof, titelte daher in der Juniausgabe der Verbandszeitschrift "Südwesttext": "Es droht der industrielle Totalausfall." Sein Fazit lautet: Fluorpolymere werden aufgrund ihrer herausragenden Materialeigenschaften in allen Hochtechnologiebereichen "made in Germany" eingesetzt.

Wird der Restriktionsweg in der Fluorchemie ohne entsprechende funktionierende Alternativstoffe weiter in der bisher gezeigten und zukünftig avisierten Art beschritten, droht dem Standort Deutschland und Europa sprichwörtlich der industrielle Totalausfall. Um den Worst Case – den schlimmsten Fall – zu verhindern, setzen sich der VTB und Südwesttextil daher auf allen Ebenen für eine weitsichtige Diskussion des Themas "Fluorcarbon" ein. Über die Gründe für das breite Engagement sprach Thumm mit R+WTextilservice.

Zum Interview mit Stefan Tumm

R+WTextilservice: Herr Thumm, was hat Sie zu dem Fazit Ihres Artikels bewogen?

Stefan Thumm: Fluorchemie und insbesondere Fluorpolymere haben aufgrund ihres herausragenden technologischen Eigenschaftsprofils in der ganzen Industrie viele Technologien befördert oder erst möglich gemacht. Ohne Fluorchemie wären u.a. auch viele Umweltschutztechnologien, die heute eingesetzt werden, schlichtweg nicht möglich.

Der Beitrag in der "Südwesttext" ist als Warnsignal zu verstehen. Denn auch wenn alle Beteiligten das gleiche Ziel haben, nämlich Mensch und Umwelt zu schützen, brauchen wir einen möglichst ganzheitlichen, nüchternen Überblick über das Thema. Daher müssen wir differenzieren, bevor wir auf der Restriktionsebene das "Operieren" anfangen. Ansonsten sind die Schäden größer als der beabsichtigte Nutzen.

OP-Textilien
Bei der Wiederaufbereitung von OP-Textilien bringen Nachhydrophobierungsprodukte auf Fluorcarbon­basis die geforderte Chemikalien- bzw. Infektionsschutzbarriere wieder auf das ursprüng­liche Niveau zurück. - © Tobilander, Fotolia.com
Können Sie Beispiele nennen?

Ein Beispiel ist die mittlerweile sehr weit entwickelte Chemikalienschutzbekleidung. Zum Schutz der Beschäftigten hält sie u.a. stark sauren und alkalischen Flüssigkeiten sowie bestimmten brennbaren Lösungsmitteln stand. Im Fall eines Unglücks bleibt den Betroffenen dadurch ausreichend Zeit, die kontaminierte Bekleidung zu wechseln.

Auch in diesem Fall hat die Fluorchemie mit den fluorierten Polymeren und deren chemikalienabweisenden Eigenschaften die Gegebenheiten für ein hohes Schutzniveau geschaffen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele. Wir im Verband haben die entsprechenden DIN-EN-ISO-Normen und Standards für Schutztextilien zusammengetragen und an die EU-Kommission auf deren Nachfrage im PFOA-Restriktionsverfahren übermittelt.

Trotzdem ist die Fluorchemie in die Kritik geraten. Warum ?

Die Fluorchemie und die vielen Anwendungen sind äußerst komplex und auch für Experten kaum überschaubar. Die Hauptmenge an PFOA wurde nicht über die Applikation auf Textilien in die Umwelt emittiert. Sie kam in der Vergangenheit u.a. aus der Herstellung von Polytetrafluorethylen (PTFE), einem Hochleistungskunststoff. Auch wurden PFOA-verwandte Stoffe für die Herstellung von Hochleistungslöschmitteln, speziellen Netzmitteln für die Halbleiterindustrie und Galvanik, Flammschutzapplikationen, Glasbeschichtungen in der Solartechnologie eingesetzt.

Als in den USA erkannt wurde, dass PFOA für Mensch und Umwelt problematisch ist, nahm die US-amerikanische Umweltbehörde (EPA) vor einem Jahrzehnt die Industrie in die Pflicht: Sie hatte ein Stewardship-Programm ausgerufen, das zum Ziel hatte, PFOA bis Ende 2015 aus allen Produkten verschwinden zu lassen. Die Hersteller hielten sich daran, so dass Polymere auf C8-Telomerbasis in den USA und Europa weitgehend verschwunden sind. Allerdings unterscheidet sich die US-amerikanische Stoffrechtsphilosophie vom europäischen Stoffrechtsdenken bei REACH. Da aber dieses so genannte EPA-Programm heutzutage zum PFOA-Thema beisteuert, geraten wir in einen Zielkonflikt.

Fluorcarbone ermgöglichen ein hohes Schutzniveau von Textilien gegenüber Wasser, Öl und Chemikalien. - © psdesign1, Fotolia.com
Wo sehen Sie weitere Probleme?

Da bei der US-EPA der Konsens besteht, dass fluorierte Polymere mit kurzkettigen Seitenketten entwickelt werden sollen, wurden in den vergangenen zehn Jahren PFOA-Alternativstoffe für alle Einsatzbereiche entwickelt. Dies gilt für die Bereiche der Fluorpolymere wie PTFE sowie die fluorierten Polymere der Textil­imprägnierungen.

Dabei verfolgten die Chemiehersteller unterschiedliche Strategien. Einigen gingen den Weg völliger Neuentwicklungen wie die C4-Chemie. Andere wählten einen "einfacheren" Umstieg innerhalb der sogenannten Telomerchemie auf kürzerkettige C6-Verbindungen. Diese werden aber mit dem gleichen chemischen Grundverfahren wie die C8-Chemie hergestellt.

Doch auch wenn die Chemieindustrie unter Hochdruck an Alternativen arbeitete, erreichen alle Alternativen nicht das im Arbeitsschutz, bei wiederverwendbaren Medizintextilien oder andere Anwendungen festgeschriebene Schutzniveau der alten C8-Chemie.

Heute kommt die C6-Chemie diesem Schutzniveau am nächsten, denn generell bedeutet eine Kettenverkürzung der seitenständigen Fluorketten eine Effektverminderung. Dieser kann man jedoch mit dem Polymerdesign und weiteren chemischen Zusatzprodukten entgegenwirken. All diese Maßnahmen bringen zwar eine gute Wasserabweisung. Sie erreichen aber weder die geforderte Öl-und Chemikalienabweisung noch die Waschpermanenz, die die C8-Chemie "vorlegt". Außerdem müssen die Einsatzmengen von C6-Alternativimprägnierungen in den Rezepturen wesentlich erhöht werden, was bei einer Gesamtemissionsbetrachtung zu einem weiteren Zielkonflikt führt.

Sind fluorfreie Systeme dann nicht eine gute Lösung für Schutztextilien?

Die verfügbaren fluorfreien Alternativen, an denen ebenfalls im letzten Jahrzehnt intensiv geforscht wurde, können die für den Arbeitsschutz gültigen Standards aus physikalischen Gründen allesamt nicht erfüllen. Ihre Effekte reichen derzeit höchstens für die Imprägnierung von Outdoorartikeln. Eine vollständige Abkehr von fluorierten Ausrüstungen würde daher das vom Gesetzgeber vorgeschriebene Arbeitsschutzniveau abschaffen.

Darüber hinaus fehlt bei den derzeit am Markt befindlichen fluorfreien Produkten bislang auch die komplette Umwelt- und Expositionsbewertung. Die Universität Bremen, zu der wir auch Kontakt haben, holt diese Untersuchungen derzeit nach. Es ist zwar wünschenswert, aber noch keineswegs sicher, dass fluorfreie Ausrüstungen tatsächlich auch eine ökologische Alternative sind.

Ihr Verband setzt sich gemeinsam mit anderen Fachverbänden in allen wichtigen Gremien für eine gemäßigte und weitsichtige Regelung der Fluorpolymere ein. Warum?

Wir Textilverbände sind mittlerweile eine Drehscheibe in diesem Thema geworden. Wir versuchen einerseits auf die Auswirkungen hinzuweisen, die ein weitgehender Ausstieg aus der Fluorchemie für unsere Branche bedeuten würde. Andererseits fördern wir neue Forschungsprojekte an dem Thema. Dabei vertreten wir die Meinung, dass wir die Alternativchemieforschung grundlegend neu aktivieren müssen. Dies benötigt Zeit und viel Forschungsfinanzierung.

Welches Ziel soll diese Forschung an Alternativen erreichen?

Wir wollen weg von PFOA und Co. – das ist ganz klar der Weg. Bei dieser Aufgabenstellung ist der Weg erfahrungsgemäß steinig und braucht Zeit. Diese Zeit muss uns aber auch die regulatorische Seite und die Politik einräumen. Dafür setzen wir uns verbandsseitig ein. Wir brauchen außerdem einen gemeinsamen Konsens aller beteiligten Parteien. Nur dann lässt sich verhindern, dass die erarbeiteten Lösungen durch neue REACH-Restriktionen eingeschränkt werden. Andernfalls schrumpft der chemische Baukasten, aus dem wir uns bedienen können, weiter.

Welches Budget ist Ihrer Meinung nach nötig?

Aus den bisher gemachten Erfahrungen rechne ich damit, dass die Erforschung neuer Lösungen im Durchschnitt etwa ein Jahrzehnt brauchen wird, denn physikalische Gesetze lassen sich nicht einfach austricksen, die chemischen Herausforderungen sind vielschichtig. Auch die abzuprüfenden Anwendungseigenschaften der vielen textilen Artikel etc. gehen gefühlt gegen unendlich. Wir setzen uns daher bei den entscheidenden Gremien wie der EU-Kommission, den Umwelt- und Wirtschaftsministerien, Forschungsinstituten und Forschungspartnern aus der Chemieindustrie dafür ein, alle Aspekte zu berücksichtigen.

Wir sprechen also über Arbeitsschutz oder Ökologie. Geht beides denn nicht zusammen?

Doch, das geht. Wir tun alles, um dem Ziel Null-Emission nahezukommen. Wir schulen unsere Mitglieder seit Jahren im Umgang mit den Fluorchemikalien. Dabei geht es z.B. um die Wiederbenutzung und die Behandlung der Reste aus den Imprägnierbädern. Ohnehin sind die PFOA-Emissionen in Europa und den USA seit dem Jahr 2006 auch ohne die beabsichtigten REACH-Restriktionen auf ein Minimum geschrumpft. In beiden Regionen sprechen wir heute – über alle Industriesektoren – nicht mehr von hunderten Tonnen PFOA-Emissionen, sondern von wenigen Kilogramm.

Sicherer Schutz im Einsatz: Feuerwehruniformen werden mittels PFOA-Imprägnierung gegen das Eindringen von Wasser, Chemikalien und Ölen geschützt. - © mmphotographie.de, Fotolia.com
Was ist zu tun?

Wir müssen nach vorne denken und werden im Sinne aller Zielsetzungen noch viel intensiver an Alternativstoffen, Alternativverfahren und ganz neuen Lösungen forschen. Insbesondere die deutsche Forschungskapazität, die für dieses Thema in Frage kommt, ist enorm und wir müssen diese nutzen.

Ganz fluorfrei wird es im Arbeitsschutz und in vielen weiteren Bereichen der technischen Textilien vorerst nicht gehen. Wir müssen aber alle Möglichkeiten nutzen, die Grundausrüstung und Nachimprägnierung noch umweltverträglicher zu gestalten.

Solange es die neuen Alternativen nicht gibt, brauchen wir aber die Gewissheit, die bestehenden Substanzen weiterhin unter kontrollierten Bedingungen nutzen zu können. Andernfalls besteht das große Risiko, dass das in der EU erreichte hohe Niveau beim Arbeitsschutz bald durch die eigenen Regelungen der EU im Stoffrecht der Vergangenheit angehört.

In Folge käme es wahrscheinlich zu einer großflächigen Industrieverlagerung. Ohne ­Fluorchemie hätten wir in Europa dann wirtschaftlich vollends das Nachsehen und würden unsere Innovationsfähigkeit verlieren. Das ist keine Alternative für Deutschland – und für Europa erst recht nicht.

Weiterführende Informationen rund um imprägnierte Textilien

Mehr zum Thema Imprägnierung von Textilien, professionelle Verfahren in Reinigung und Wäscherei sowie fluorcarbonfreien Alternativen etc. lesen Sie im Überblicksartikel von R+WTextilservice: "Mehr als wasserabweisend: Imprägnierung von Textilien".