sewts/IDS Textilien und Automatisierung: Prozess der Entfaltung

Lieferketten- und Energieprobleme, Personalmangel und höhere Lohnkosten: Die Textilservicebranche hat es aktuell mit vielen Herausforderungen zu tun. Helfen soll u.a. eine weitere Automatisierung der Prozesse. Die Unternehmen sewts und IDS haben eine Technologie entwickelt, mit der einzelne, bisher oft händische Schritte, wie das Sortieren schmutziger Textilien oder das Einlegen der Wäsche in Faltmaschinen, automatisiert werden können. Dabei kommen Kameras, Roboter und künstliche Intelligenz zum Einsatz.

Roboter sollen helfen, die Automatisierung in Wäschereien voranzutreiben. - © sewts/IDS

Die Textil- und Bekleidungsindustrie steht mit aktuellen Lieferketten- und Energieproblemen einmal mehr vor großen Herausforderungen. Der künftige Aufschwung wird außerdem durch produktionshemmende Faktoren wie den Mangel an Arbeitskräften und Ausrüstung gefährdet, die sie zusätzlich unter Druck setzen. Andererseits müssen die damit verbundenen höheren Lohnkosten und der vorherrschende Fachkräftemangel hierzulande kompensiert werden. Letzteres setzt eine weitere Automatisierung der Verarbeitung von Textilien voraus.

Die Wettbewerbsfähigkeit der Branche, insbesondere im globalen Kontext, hängt davon ab, wie betroffene Unternehmen auf Rahmenbedingungen reagieren. Ein Lösungsansatz ist, die Produktion von Bekleidung wieder wirtschaftlich rentabel nach Europa zu verlegen. Kürzere Transportwege und -kosten und damit einhergehend eine deutliche Einsparung von Treibhausgasen weltweit sprechen dafür.

sewts: Start-up mit Potenzail

Das große Potenzial, das in einer weiteren Automatisierung steckt, hat das deep-tech Startup sewts GmbH aus München in den Fokus genommen (siehe auch R+WTextilservice Ausgabe 1/2022: "Textilien automatisch vereinzeln"). Es entwickelt Lösungen, mit deren Hilfe Roboter – ähnlich dem Menschen – vorhersehen, wie sich eine Textilie verhält, und ihre Bewegung entsprechend daran anpassen.

Im ersten Schritt hat sich sewts eine Anwendung für industrielle Großwäschereien vorgenommen. Mit einem System, in dem sowohl 2D- als auch 3D-Kameras der IDS Imaging Development Systems GmbH zum Einsatz kommen, automatisieren die jungen Unternehmer einen der letzten verbliebenden manuellen Schritte in industriellen Großwäschereien, den Entfaltungsprozess. Obwohl 90 Prozent der Prozessschritte beim industriellen Waschen bereits automatisiert sind, fallen auf die verbliebenen manuellen Vorgänge 30 Prozent der Lohnkosten. Die Einsparungsmöglichkeiten durch den Einsatz von Robotik sind an dieser Stelle also enorm.

Anwendung in der Wäscherei

Mit entsprechender Software und Kameratechnik sollen Roboter vorhersehen, wie sich eine Textilie verhält. - © sewts/IDS

Zwar arbeiten industrielle Wäschereien schon jetzt in einer hochautomatisierten Umgebung, um die großen Mengen an Wäsche bewältigen zu können. So wird unter anderem das Zusammenlegen der Wäsche von Maschinen übernommen. Jede dieser Maschinen erfordert allerdings in der Regel einen Mitarbeitenden, der die Wäsche manuell ausbreitet und faltenfrei zuführt. Diese anstrengende Bestückung der Faltmaschinen wirkt sich unverhältnismäßig auf die Personalkosten aus. Zudem ist qualifiziertes Personal schwer zu finden, was oftmals Auswirkungen auf die Auslastung und damit die Wirtschaftlichkeit von Großwäschereien hat. Die Saisonabhängigkeit des Geschäfts erfordert zudem hohe Flexibilität.

sewts macht IDS-Kameras zu den Bildverarbeitungskomponenten eines intelligenten Systems, mit dessen Technologie sich nun einzelne Schritte, wie das Sortieren schmutziger Textilien oder das Einlegen der Wäsche in Faltmaschinen, automatisieren lassen.

"Die besondere Herausforderung besteht dabei in der Verformbarkeit der Textilien", erklärt Tim Doerks, Mitgründer und CTO. Denn während sich die Automatisierung der Verarbeitung fester Materialien wie Metalle mithilfe von Robotik- und KI-Lösungen vergleichsweise unproblematisch abbilden lässt, stoßen verfügbare Softwarelösungen ebenso wie klassische Bildverarbeitung bei leicht verformbaren Stoffen oftmals noch an Grenzen. Entsprechend können handelsübliche Roboter- und Greifsysteme so einfache Vorgänge, wie etwa das Greifen eines Handtuches oder Bekleidungsstückes, bislang nur unzureichend ausüben.

sewts will Automatisierungslücke schließen

Das sewts-System "Velum" kann dies leisten. Mithilfe intelligenter Software und einfach zu integrierenden Kameras ist es in der Lage, forminstabile Materialien wie z.B. Textilien zu analysieren. Dank der neuen Technologie können Roboter das Verhalten dieser Materialien beim Greifen in Echtzeit vorhersagen. Sie ermächtigt das vorgestellte System, Handtücher und ähnliche Wäsche aus Frottee problemlos und faltenfrei in bestehende Faltmaschinen einzuführen, und schließt damit eine kostensensible Automatisierungslücke.

Die besondere Herausforderung besteht in der Verformbarkeit der Textilien. - © sewts/IDS

Die von sewts entwickelte Software-Suite vereint handelsübliche Roboter, Greifer und Kameras zu einem intelligenten System. Auf der Suche nach den passenden Kameramodulen waren für die Münchener neben der kompromisslosen Industrietauglichkeit gleich mehrere Kriterien ausschlaggebend: "Wir brauchen eine 3D-Kamera, die kostengünstig ist, da wir je nach Systemkonfiguration zwei bis drei 3D-Kameras einsetzen. Darüber hinaus muss sie vor allem eine hohe Genauigkeit der Tiefendaten gewährleisten", erklärt Tim Doerks. "Zusätzlich brauchen wir 2D-Kameras, die lichtempfindlich sind, einen hohen Dynamikumfang liefern und für den Einsatz in einem Mehrkamerasystem geeignet sind."

Im IDS-Portfolio wurden die Münchner Gründer fündig: Für das Multikamerasystem "Velum" fiel die Wahl auf die neue Kamera "Ensenso S10 3D" sowie Modelle der Kameraserie "uEye CP". Sie haben die Aufgabe, sowohl in 2D als auch in 3D interessante Features und Greifpunkte der Textilien zu identifizieren, die dem System nach dem Waschen und Trocknen ungeordnet in einem Behälter oder auf einem Förderband zugeführt werden. Form und Lage der einzelnen Objekte sind dabei nicht vorherzusehen. Die Kameras erfassen die verschiedenen Texturen der Materialien. Sie unterscheiden, welche Säume es an einem Handtuch gibt und wo sich Ecken befinden.

Mit Kameras Wäsche falten

Die mit einem 1.6-MP-Sony-Sensor ausgestattete "Ensenso S10" arbeitet dabei mit einem 3D-Verfahren, das auf strukturiertem Licht basiert: Ein schmalbandiger Infrarot-Laserprojektor erzeugt selbst auf Objekten mit schwierigen Oberflächen oder in schwach beleuchteter Umgebung ein kontrastreiches Punktemuster. Jede Bildaufnahme des 1.6-MP-Sony-Sensors liefert eine vollständige Punktwolke mit bis zu 85.000 Tiefenpunkten. Künstliche Intelligenz (KI) ermöglicht eine zuverlässige Zuordnung der gefundenen Laserpunkte zu den fest kodierten Positionen der Projektion. Daraus resultieren die robusten 3D-Daten mit der nötigen Tiefengenauigkeit, aus denen das System die Koordinaten für die Greifpunkte extrahiert.

Die komplementär arbeitende Industriekamera "GV-5280CP-C-HQ" mit GigE-Vision-Firmware ist mit dem 2/3“- Global-Shutter CMOS Sensor IMX264 von Sony ausgestattet. Sie liefert in voller Gig-E-Geschwindigkeit nahezu rauschfreie, kontrastreiche 5-MP-Bilder in 5:4-Format mit 22 fps in Anwendungen mit schwankenden Lichtverhältnissen.

Die Kamera "uEye CP" bietet maximale Funktionalität mit umfangreicher Pixelvorverarbeitung und eignet sich dank des internen 120-MB-Bildspeichers zum Zwischenspeichern von Bildsequenzen für Multikamerasysteme. Das kleine Magnesiumgehäuse ist mit rund 50 g ebenso leicht wie robust und macht die Kamera für platzkritische Anwendungen und den Einsatz auf Roboterarmen geeignet.

Software: Input für künstliche Intelligenz

Je nach Kundenanforderung bzw. Konfiguration kommen jeweils zwei bis drei "uEye-2D"- bzw. "Ensenso-3D"-Kameras zum Einsatz – beide Modelle lassen sich nahtlos in "Velum" integrieren. "Wir sind Experten in der Aufbereitung der generierten Daten, was besonders bei der Arbeit mit 3D-Punktwolken wichtig ist. Diese Vorverarbeitung ist ein wichtiger Baustein unserer Systeme, um geeigneten Input für unsere künstliche Intelligenz zu generieren", unterstreicht Tim Doerks. Die KI verarbeitet die von den Kameras gelieferten Daten. Über Merkmale wie Nahtverlauf, lokale Erhebungen oder relative Lage von Nähten analysiert die Software die Topologie der Textilien, klassifiziert sie über verschiedene Texturen und Stickmuster nach Textilart und -klasse und übersetzt diese Erkenntnisse in Roboterbefehle.

"KI ist der Kern unserer Technologie. Es bedarf intelligenter Algorithmen, um adaptive Systeme zu bauen, die mit nicht deterministischen Automatisierungsprozessen zurechtkommen. Deshalb nutzen wir die neuesten Erkenntnisse der KI-Forschung, verfeinern sie für unsere Bedürfnisse und fügen sie schließlich zu einem großen Ganzen zusammen", ergänzt Till Rickert, Mitgründer und CPO von sewts. Das System empfängt diverse Sensordaten (z.B. optische Informationen), zieht daraus entsprechende Schlüsse auf einer menschenähnlichen Kognitionsebene und übersetzt diese in Roboterbefehle. Auf diese Weise führen Systeme Aufgaben durch, für die bisher der menschliche Verstand erforderlich war. Genau das entspricht der Unternehmensphilosophie von sewts: "Unser Ziel ist es, komplexe manuelle Arbeit in reibungslose Automatisierung zu verwandeln."

Ausblick: Bekleidungsproduktion automatisieren

Alexander Bley, Mitgründer und CEO der sewts GmbH: "Durch das Schließen dieser Automatisierungslücke können wir die Produktivität einer Textilwaschstraße nahezu verdoppeln." - © sewts/IDS

Mit Systemen wie "Velum" können Wäschereien ihren Durchsatz unabhängig von der Personalsituation steigern und ihre Wirtschaftlichkeit erhöhen. "Durch das Schließen dieser Automatisierungslücke können wir die Produktivität einer Textilwaschstraße nahezu verdoppeln", so Mitgründer und CEO Alexander Bley.

Auch für Bekleidung wie Shirts und Hosen können IDS-Kameras künftig eingesetzt werden. "Es ist wichtig, die Eigenschaften dieser Materialien zu verstehen, um robuste Prozesse zu implementieren. Dies erreichen wir durch hochentwickelte Materialsimulationen. Um das Verhalten von Textilien nachzubilden, erstellen wir spezielle FE-Simulationen nach der Finite-Element-Methode", erläutert Alexander Bley.

Doch die Münchener haben eine übergeordnete Vision: "Wir wollen es ermöglichen, die Produktion von Bekleidung zu automatisieren und diese kosteneffizient zurück an den Nutzungsort zu verlagern. Auf diese Weise verkürzen wir die Transportwege, schaffen zuverlässigere Lieferketten, sparen CO2-Emissionen und bekämpfen das Problem der Überproduktion." Darüber hinaus sind künftig auch Applikationen mit Materialien geplant, die keine Textilien sind. Denn für Technologien wie diese gibt es viele potenzielle Anwendungsfälle, und Bildverarbeitung wird stets eine bedeutende Rolle spielen. Künstliche Intelligenz wird diese Entwicklung beschleunigen.

Im Sommer 2022 ist es so weit: Die erste Anlage wird in einer Großwäscherei im Münchner Raum installiert.